Wenn das Verfahren das Versprechen bricht

Zwischen Anwalt und Gericht. Der Moment, in dem Hoffnung kippt.
Wenn ein Verfahren über Jahre sein Gedächtnis verliert, verliert der Rechtsstaat etwas anderes: sein Versprechen. Und dieses Versprechen ist im Baualltag keine Theorie, sondern ein Risikofaktor.
An einem Freitag Mitte Dezember habe ich dieses Gefühl in drei Terminen wiedergetroffen. Drei Gerichte, drei Konstellationen, drei Arten von Stillstand. Und am Ende dieselbe Frage:
Was passiert, wenn Rechtsdurchsetzung nicht an Paragraphen scheitert – sondern am Verfahren?
1. Landgericht Göttingen, 8. Zivilkammer: Sechs Jahre bis zur ersten Verhandlung
Wir vertreten einen Architekten. Eine kleine Stadt im Südharz hatte ihn beauftragt, mehrere öffentliche Gebäude zu sanieren. Es gab Mängel, strittige Mängel, behauptete Mängel. 2018 wurde der Vertrag beendet, ein Nachfolgebüro übernahm, und die Mangelbeseitigung lief – zum großen Teil über ausführende Firmen, die jedenfalls bei Ausführungsfehlern als Verursacher in Betracht kommen.
2019 hat unser Mandant sein Honorar eingeklagt. Ursprünglich ging es um rund 260.000 Euro. Nach Jahren laufen bei solchen Summen Zinsen nicht „nebenher“, sie werden zum eigenen wirtschaftlichen Faktor. Überschlägig steht heute eine Gesamtgröße im Raum, die für einen einzelnen Planer existenziell sein kann.
Was mich an diesem Termin erschüttert hat, war nicht ein „schwieriger Rechtsfall“. Es war das Protokoll der Zeit: Mehr als sechs Jahre nach Klageerhebung: erste mündliche Verhandlung.
In diesen sechs Jahren ist die Klage faktisch nicht gefördert worden. Keine Verhandlung, keine klärenden Hinweise, kein Beweisprogramm, das die Honorarforderung als das behandelt, was sie ist: der Kern des Rechtsstreits aus Sicht des Klägers. Stattdessen: umfangreiche Beweisaufnahme zur Widerklage, Gutachten, Ergänzungsgutachten. Als sei die Klage ein Anhang.
Im Termin wurde zudem ein Reflex sichtbar, den man in der Praxis immer öfter spürt: gedanklich wird schon sortiert, was „von der Widerklage übrig bleiben könnte“, bevor sauber geklärt ist, ob die Klage überhaupt zu Recht jahrelang liegen durfte.
Und dann die zweite Ebene: die Organisation. Sinngemäß hieß es zu Beginn, das Gebäude müsse um 13 Uhr „leer“ sein. Ab einem bestimmten Zeitpunkt liefen nicht nur Argumente, sondern Minuten mit. Wer Bauprozesse führt, kennt Zeitdruck aus Projekten. Im Gerichtssaal ist er Gift.
Ich frage mich: Was macht das mit einem Architekten, der sechs Jahre auf den ersten Termin wartet – und dann spürt, dass das Verfahren nicht nach Wahrheit, sondern nach Uhrzeit atmet?
2. Landgericht Flensburg, 3. Zivilkammer: 17 Jahre erste Instanz – acht Wechsel – und ein Wintergarten, in dem Kerzen ausgehen

Landgericht Flensburg, 6. November 2025. An diesem Tag fand eine mündliche Verhandlung in einem Verfahren statt, das seit 2008 läuft – mit der Hoffnung auf eine baldige Entscheidung. Es kam anders.
Am selben Tag, wenige Stunden später, sollte in Flensburg eine Entscheidung verkündet werden. Ein Verfahren, das seit 2008 läuft. Erste Instanz.
Es geht um ein Einfamilienhaus in der Nähe von Schleswig, eines der ersten Mandate an unserem vierten Standort in Hannover. Mängel und Schäden, die nie geklärt wurden. Die Klage ist seit 2012 anhängig. Dazwischen: acht Besetzungs- und Dezernatswechsel. Die Ehefrau des Klägers, zugleich die einzige Zeugin, die unter diesem Zustand gelitten hatte, ist bereits 2016, acht Jahre nach Beginn des Verfahrens, verstorben. Und im Herbst 2025 erklärte der gerichtliche Sachverständige, 86 Jahre alt, er könne aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr weitermachen; sein Gutachten bleibe unvollständig. Dabei hatten wir seit mehr als 10 Jahren auf genau dieses Risiko hingewiesen, denn bereits damals war der Sachverständige 76 Jahre alt. Das Gericht ließ sich nicht beirren, alle Rechtsbehelfe blieben erfolglos.
Wer solche Sätze liest, denkt an Ausnahme. In der Akte ist es Alltag.
Der dokumentierte Stillstand
Nach einer mündlichen Verhandlung im November 2017 wurde die Verkündung zunächst auf Dezember 2017 terminiert, dann aus „dienstlichen Gründen“ in den Januar 2018 verlegt. Die Entscheidung vom 19.01.2018 blieb aus. Jahre. Was dabei leicht übersehen wird: Verzögerung ist hier nicht nur ein Gefühl, sondern aktenkundig – und sie wurde zunächst nicht einmal „offiziell“ adressiert.
Den Stillstand hätte man auch offiziell eskalieren können. Der Kläger wollte das zunächst nicht. Nicht aus Nachlässigkeit, sondern aus Vertrauen: Er wollte den Rechtsstaat nicht „unter Druck setzen“. Er griff stattdessen zum Telefon und sprach direkt mit dem damals zuständigen Vorsitzenden. Am 07.01.2020 stellte das Gericht auf diese telefonische Nachfrage in Aussicht, der Angelegenheit binnen zwei Wochen Fortgang zu geben.
Genau das geschah dann nicht.
Wir haben das Gericht schriftlich an diese Zusage erinnert. Keine Reaktion.
Drei Monate später, im April 2020, kam eine Verfügung: Die Zuständigkeit wechselte – von der 8. Zivilkammer zur 7. Zivilkammer. Wieder ein Besetzungswechsel.
Wir haben daraufhin erneut gemahnt und erinnert. Wieder keine Reaktion.
Nach fast einem Jahr ohne jede Rückmeldung war klar: Die Prozessförderungspflicht war nicht mehr nur vorübergehend ausgesetzt. Sie war faktisch aufgegeben worden. Erst da bat uns der Kläger, eine Verzögerungsrüge zu formulieren – nicht als Angriff auf Personen, sondern als letztes Mittel, um überhaupt wieder Bewegung in ein Verfahren zu bringen, das längst stillstand.
Im November 2020 haben wir eine Verzögerungsrüge nach § 198 Abs. 3 S. 1 GVG erhoben. Nochmals hatten wir darauf hingewiesen, dass die letzte mündliche Verhandlung im November 2017 stattgefunden und dort ein Termin zur Verkündung einer Entscheidung auf den 22.12.2017 anberaumt worden war. Dieser Termin war dann am 22.12.2017 aus „dienstlichen Gründen“ auf den 19.01.2018 verlegt worden. Seitdem war – über mehrere Jahre hinweg – nichts passiert.
Die Akte war verschwunden
Die Antwort des Gerichts im Januar 2021 war ein Satz, den man als Betroffener kaum verarbeitet: Nach dem Wechsel sieben Monate zuvor sei die Akte aus „unbenannten“ Umständen nicht zur Geschäftsstelle und damit auch nicht zum neuen Dezernenten gelangt. Die Akte war seit April 2020 nicht bei der 7. Zivilkammer angekommen.
Erst am 20.01.2021 sei die Akte „wieder aufgetaucht“, zusammen mit Schriftsätzen, die noch nicht weitergeleitet worden waren. Zugleich: Bitte um Geduld, Hinweise auf Corona, eingeschränkte Präsenz, viele Altverfahren. Und die Anregung, Vergleichsvorschläge zu prüfen.
Vergleich ist ein legitimes Instrument. Aber irgendwann wird er zur Ersatzhandlung, wenn das Verfahren seine eigentliche Funktion nicht mehr erfüllt: zu entscheiden.
Und es geht weiter
In diesem Dezember war erneut eine Verkündung angesetzt. Nach all den Jahren hängt an so einem Datum Hoffnung. Am Morgen des 15. Dezember die Auskunft: Die Akte war noch nicht zurück. Gegen Mittag dann: Verschiebung auf den 23. Dezember, wiederum aus „dienstlichen Gründen“ und wiederum kurz vor Weihnachten. Dabei hatte der Richter im letzten Termin im November bereits angekündigt, dass er am 1. Januar in Erziehungsurlaub gehen würde – für mindestens ein Jahr.
Was dann passiert? Niemand kann es seriös sagen. Ein weiterer Wechsel. Ein weiterer Neuanfang. Oder schlicht: weitere Zeit.
Die Realität hinter den Aktenzeichen
Und während Aktenzeichen und Zuständigkeiten wechseln, bleibt die Realität des Klägers gleich. Vor einigen Jahren hat er auf Nachfrage des Gerichts beschrieben, wie unverändert sein Alltag ist: Fenster und Außentüren sind nicht winddicht, der Wintergarten bleibt ein Dauerproblem. Und dann dieser Satz, der mir seitdem nachgeht: Wenn an Weihnachten der Tannenbaum im Wintergarten steht, gehen die Kerzen aus, wenn der Wind von Westen weht. So windundicht ist der Wintergarten. Und an Urlaub ist zwischenzeitlich nicht mehr zu denken – genau dann würde es sicherlich reinregnen.
17 Jahre. Kerzen, die ausgehen. Kein Urlaub möglich. Weil ein Rechtsstreit nicht endet.
Man kann über Justizstatistiken sprechen. Oder man kann sich vorstellen, was es heißt, wenn ein Rechtsstaat so lange braucht, dass in einem Wintergarten über Jahre die Kerzen ausgehen – und niemand verbindlich klärt, wer dafür einstehen muss.
3. Landgericht Köln, 5. Zivilkammer: Wenn nicht die Rechtslage scheitert, sondern die Vorbereitung
Ein drittes Bild, einige Wochen zuvor: Werklohnstreit um eine technische Gewerkeleistung. Im Termin sollte Beweis erhoben werden zur Frage der Abnahme.
Erst im Termin wurde sichtbar, dass die Rechnung auf ein Aufmaß verwies, das nie vorgelegt worden war. Dass eine behauptete Abnahme so nicht stattgefunden hatte. Dass eine benannte Zeugin weder befugt war noch den behaupteten Ablauf bestätigte. Und dass die Leistung nach eigenem Vortrag des Klägers nicht einmal fertiggestellt war.
Das ist kein exotisches Problem. Das ist Handwerk. Akte lesen. Substanz prüfen. Tatsachen sortieren. Und genau hier liegt ein anderer Teil der Justizkrise: Überlastung wird nicht nur zur Wartezeit, sie wird zur Fehlerquelle.
Der Termin eskalierte, wurde unterbrochen, alle mussten kurz raus, dann ging es weiter. Ich beschreibe das ohne Häme. Wer überlastet ist, macht Fehler. Aber genau deshalb braucht es Strukturen, die verhindern, dass Überlastung zum Verlust an Verfahrensqualität wird.
4. Das Gemeinsame: Das Verfahren verliert sein Gedächtnis – und die Beteiligten verlieren Vertrauen
Diese drei Fälle zeigen drei Spielarten derselben Erosion:
Erstens: Verfahren, die nicht gefördert werden, obwohl wirtschaftlich alles daran hängt.
Zweitens: Verfahren, die über Wechsel hinweg ihr Gedächtnis verlieren, bis Sachverständige ausscheiden und Zeugen sterben.
Drittens: Verfahren, die im Termin sichtbar werden lassen, dass Grundlagenarbeit fehlt.
Die Folge ist leise, aber gravierend: Immer mehr Beteiligte verzichten auf gerichtliche Klärung. Sie vergleichen früh, sie verzichten auf Ansprüche, sie nehmen Nachteile hin. Nicht weil sie „einverstanden“ sind, sondern weil sie kalkulieren: Ein Verfahren ist nicht mehr verlässlich beherrschbar. Das ist kein Boykott, das ist ein schleichender Rückzug.
In einigen Verfahren haben wir – nicht selten nach Jahren ergebnisloser Nachfragen – Präsidenten von Landgerichten eingeschaltet. Die Antworten ähneln sich: Hinweis auf richterliche Unabhängigkeit (Art. 97 GG), eingeschränkte Dienstaufsicht, keine Kommentierung. Das mag verfassungsrechtlich konsequent sein – praktisch bleibt bei den Betroffenen oft nur das Gefühl: Für das Liegenlassen ist niemand zuständig.
Ich sage das sehr bewusst: Richterliche Unabhängigkeit schützt die Entscheidung. Sie ist ein Pfeiler des Rechtsstaats.
Aber sie darf nicht zur Übersetzung werden für: „Niemand ist zuständig, wenn das Verfahren nicht läuft.“
Unabhängigkeit schützt das Urteil – nicht das Liegenlassen.
Sie schützt die Rechtsfindung – nicht die Verfahrensverweigerung.
Und wenn das Vertrauen der Rechtsuchenden nicht mehr trägt, ist der nächste Schritt nicht die Verzögerungsrüge – sondern der Verzicht auf den Rechtsweg.
Und damit wird Rechtsdurchsetzung zur Frage der wirtschaftlichen Durchhaltefähigkeit. Wer stark ist, kann aussitzen. Wer schwächer ist, gibt nach.
5. Welche Reformhebel liegen nahe?
Ich glaube, man muss es nüchtern sagen: Wir werden die Justiz nicht retten, indem wir nur über mehr Personal sprechen. Das ist nötig, aber nicht hinreichend. Aus der Praxis drängen sich Reformhebel auf, die das Verfahren selbst stabilisieren:
Erstens: Verfahrensgedächtnis bei Besetzungswechseln. Übergaben dürfen nicht vom Zufall abhängen. Es braucht verbindliche Übergabeprotokolle, klare Priorisierung von Altverfahren und sichtbare Verantwortlichkeiten.
Zweitens: Transparenz über Bearbeitungsstände. Nicht als Einmischung in die Entscheidung, sondern als Organisationspflicht: Wo steht die Akte? Was ist der nächste Schritt? Warum passiert seit Monaten nichts?
Drittens: Prozessförderung als verlässliche Pflicht, nicht als Appell. § 139 ZPO steht für richterliche Prozessleitung. In der Wirklichkeit muss diese Leitung auch dann funktionieren, wenn das System unter Druck steht.
Viertens: Qualitätssicherung bei Überlastung. Wenn Kammern am Limit arbeiten, braucht es Schutzmechanismen gegen genau jene Fehler, die man später nicht mehr reparieren kann.
Ich habe großen Respekt vor der Justiz, vor ihren Richterinnen und Richtern, vor dem Anspruch, unabhängig zu entscheiden. Aber ich sehe auch: Unabhängigkeit ohne Funktionsfähigkeit wird zur hohlen Geste. Und Funktionsfähigkeit ohne Verfahrensgedächtnis ist ein Risiko, das sich längst in die Realität des Bauens eingeschrieben hat.